Leseprobe

BIS VOR KURZEM WAR unser Dorf nicht einmal ein Fleck auf der Landkarte. Ein Kaff wie viele andere. Ein Bergdorf. Um das Nachbardorf zu erreichen, brauch­ten die Menschen einen halben Tag. Und die nächste Kreisstadt forderte fast einen ganzen. Als ich in die Grundschule kam, ließ die Gemeinde eine Straße bauen, die wegen der knappen Mittel so schlecht asphaltiert wurde, dass sie schwer befahrbar war. Ein Kaff eben. Lange Zeit gab es nur einen Laden im Dorf. Die Mittelschule und das Gebetshaus wurden viel spä­ter gebaut. Kein Krankenhaus, aber ein Gesundheits­haus. Dort arbeitete eine Hebamme. Später kam ein Sanitäter aus der Stadt dazu, der viel wusste, aber nichts verstand. Ein Telefon gab es bis vor wenigen Jahren nur im Hause des Dorfvorstehers. Ein Berg­dorf eben.

Heute kennt man es im ganzen Land. Mit seinem Na­men kann kein Mensch etwas anfangen, aber wenn ich sage: »Ich komme aus dem Dorf der Tränen­sammlerin«, dann wissen die Leute Bescheid. Ja, un­ser Dorf ist landesweit bekannt. Und diese Berühmt­heit hat es keinem anderen als mir zu verdanken. Ver­danken? Die Wahrheit ist, dass ich dafür von der Mehr­heit meiner Mitbewohner verdammt werde. Ich kann nicht mehr auf den Straßen meiner Kindheit Spazie­rengehen, die ich durch eine Unachtsamkeit besudelt habe. Dass ich unter Alkoholeinfluss nicht Herr mei­ner Zunge war, kann keineswegs als Entschuldigung dienen. Mehr oder weniger habe ich es bewirkt, dass unzählige Fremde dort ihre Fußabdrücke hinterließen.

Spuren, die auch der stärkste Regen nicht verwischen kann. Ich könnte heulen und Riesenkrüge mit meinen Tränen füllen, aber wem sollte ich sie anvertrauen? Die Tränensammlerin ist verschwunden, und alle Dorf­bewohner wissen, dass sie nie wieder auftauchen wird. Ich, der Stolz meines Dorfes, der aufgeweckte Junge aus der Nachbarschaft, ich, der ehrgeizige Doktorand, habe sie verraten. Das steht fest. Ich, der als Kind in den Genuss kam, von ihr ins Vertrauen gezogen zu werden, habe sie, die Tränensammlerin, für die Ver­wirklichung einer törichten Idee gewinnen wollen. Dabei hätte ich wissen müssen, dass sie dazu nie­mals bereit wäre. Mit ihrem Verschwinden hat sie auch meinen Versuch, hinter ihr Geheimnis kommen zu wollen, bestraft. Als hätte sie sich in Luft aufgelöst, gibt es keine Spur mehr von ihr. Im ganzen Land nicht. Schon ihre Mutter war eines Tages spurlos verschwun­den.

 

Tamara war die bildhübsche Tochter einer eher un­ansehnlichen Frau. Sie war die Schönste im Dorf. Men­schen jeden Alters und Geschlechts waren der Über­zeugung, die Klarheit ihres Geistes, die Güte ihres Herzens und die Reinheit ihrer Seele spiegele sich in ihrem Gesicht wider. All das hätte zwar auch ihre Mutter besessen, aber Gott hätte es sich vorbehal­ten, diese Tugenden erst bei der Tochter zu verbildli­chen. Wir bewunderten und verehrten sie. Während wir Kinder aufwuchsen, blieb sie unverändert. Uns kam es vor, als hätte sie zu altern aufgehört.