Leseprobe

STRANDGUT

Torben Schott (Klasse 6)

 

Die Luft an jenem Morgen war salzig, als Jakob den Strand betrat. Der Sand war noch kühl und das Meer begann zurückzukehren. Auf dem Campingplatz hinter den Dünen stand der Wohnwagen, in dem seine Eltern schliefen. Jakob war früh wach geworden, wusste nicht, was er machen sollte. Nun stand er hier. Frühmorgens, mitten am Strand, mitten im Sommer, mitten im Urlaub. Doch bis jetzt hasste Jakob diesen Urlaub. Er vermisste etwas. Doch was? Jakob ging ein paar Schritte ans Meer. Der Strand war so frühmorgens leergefegt wie eine Straße ohne Autos. Langweilig, so langweilig.

Plötzlich fiel Jakobs Blick auf einige Spuren im Sand. Fußspuren, ungefähr so groß wie seine. Er schaute sich um. Niemand war zu sehen – zu wem gehörten die Spuren? Noch einmal schaute er sich um. Seine Eltern würden noch nicht aufstehen, und die Spuren, die rochen nach Abenteuer.

Jakob ging ihnen nach, erst nur ein Stück – doch sie gingen weiter. Auch schienen die Spuren noch frisch zu sein. Wo würden sie ihn hinführen? Jakob bemerkte nicht, wie sich der Himmel immer mehr mit Wolken zuzog und wie es langsam kühler wurde. Immer weiter ging er den Spuren nach, doch plötzlich war nur noch ein Fußabdruck zu sehen. Jakob erschrak. Nur ein Fußabdruck? War er etwa auf der Fährte eines einbeinigen Piraten, der hier gestrandet war? Oder den seine Besatzung ausgesetzt hatte? Jakob drehte sich erneut um: Wie weit er schon gelaufen war! Sollte er nicht doch lieber umkehren? So frühmorgens, so allein am Strand? Die Wolken verdeckten inzwischen die gerade aufgegangene Sonne. Schwarze, mächtige Regenwolken. Der Wind brauste durch den Sand und das Meer schäumte und türmte sich zu immer größeren Wellen auf. Die Möwen kreischten über Jakobs Kopf und ließen sich im Wind tragen. Wie erstarrt stand Jakob nun dort und wusste nicht, was er tun sollte. Ohne Zweifel, gleich würde es anfangen zu regnen. Jakob lief ein Stück, die Muscheln piekten ihn unter seinen Füßen. Doch wo waren die Spuren geblieben? Der Wind verwischte sie, wehte sie einfach davon. Und in den Sand, mit dem der Wind nur allzu gerne spielte, prasselten die ersten Tropfen. Jakob rannte. Rannte, so schnell er konnte, den Strand entlang. Er achtete nicht mehr auf die Spuren, wollte nur noch möglichst schnell Schutz in den Dünen suchen. Der nasse Sand hielt seine Füße fest, der Regen peitschte ihm ins Gesicht.

 

Plötzlich hörte Jakob ein leises Weinen. Es kam von der anderen Seite der Dünen. Der Wind und das Meer verschluckten den Ton – verschlangen ihn wie ein gefundenes Fressen. Dennoch konnte Jakob ihn mit großer Anstrengung hören. Mit letzter Kraft schleppte er sich die Düne hinauf. Hinter ein paar Krummholzkiefern und Sanddornbüschen entdeckte er plötzlich etwas Zusammengekauertes. Zuerst dachte er an ein Kaninchen, die sich in den Dünen zu Tausenden tummelten. Doch dann bemerkte Jakob, dass es ein Mensch war. Der Mensch weinte und hielt sich seinen Fuß. „Hallo“, machte sich Jakob bemerkbar. „Wer bist du?“ Der Junge erschrak und blickte auf. Er wollte etwas sagen, doch stattdessen verzog er plötzlich vor Schmerzen das Gesicht. „Mein Bein!“ Schon fing er wieder an zu weinen. „Was ist damit?“, fragte Jakob. „Ich“, stammelte der Junge, „ich hab es mir… ich weiß nicht, was passiert ist. Plötzlich konnte ich nicht mehr laufen, nur... nur noch auf einem Bein hüpfen.“ Jakob begriff: Sein einbeiniger Pirat lag vor ihm und schien furchtbare Schmerzen zu haben. „Ich werde Hilfe holen“, versprach Jakob. „Wo wohnst du?“ „Wir sind“, begann der Junge, „wir sind mit dem Wohnwagen hier, dort… dort hinten auf dem Campingplatz.“ „Verstehe“, murmelte Jakob. Inzwischen hatte der Regen nachgelassen und die Sonne blinzelte aus den Wolken hervor. Jakob rappelte sich auf und lief los. Und während er durch die frische Seeluft rannte, um Hilfe zu holen, erschien am Himmel ein wunderschöner Regenbogen.