Leseprobe

 Der Holländer von Inge Müller

 

Seit meiner Kindheit, seit ich die Welt um mich herum bewusst wahrgenom­men habe, erinnere ich mich an einen ungewöhnlichen Mann. Einmal im Monat kam er mit seinem Planwagen voller Heringsfässer aus dem Westfälischen herüber in unser Dorf. Für mich war er ein alter Mann, der immer dieselbe schäbige Kleidung trug, mit einem Schlapphut auf dem Kopf, der gemächlich seine Ackergäule durch die Straßen unseres Dorfes führte. Wenn er mit sei­nem Wagen stillstand, Heringe verkaufte und erzählte, dann bekamen die Pfer­de einen Sack Hafer umgebunden, aus dem sie fraßen. Er war ein ungewöhn­licher Mann und sein Ruf schallte schon von weitem die Straße hinunter, ob­wohl er noch nicht sichtbar war: „Heeeeeeeeeering, Heeeeeeeeeering!" - lang gezogen, lautstark, eben nicht zu überhören.

Wir alle freuten uns, wenn der „Holländer" kam, wie wir ihn nannten. Denn Pellkartoffeln und Hering in Schmandsauce waren eine Delikatesse und für uns eine Abwechslung vom ständigen Fleisch- und Eintopfalltag. Zehn Stück kosteten eine Mark und zehn Stück wurden genommen. Die Großmutter wusste immer so ungefähr, wann der Holländer kommen könnte, und wir Kinder mussten dann aufpassen, damit wir ihn ja nicht verpassten. Doch die Chance war gering, denn seinen lauten Ruf musste jeder hören. Wie gesagt: „Heeeeeeeeeering, Heeeeeeeeeering!" - Das war die Ankündigung. Doch in Abständen schrie er einen anderen Satz: „Heeeeeeeeeering, Heeeeeeeeeering, so fett wie Göring!" Die Großmutter störte dieser Satz un­gemein. Sie sagte jedes Mal zu ihm, er solle das nicht so laut schreien. Warum nicht? Ich fand es lustig.

Dann kam der Holländer nicht mehr. Niemand wusste, wieso nicht. Gerätselt wurde. War er krank? Hatte er einen Unfall? Waren die Pferde eingegangen? Doch niemand wusste wirklich etwas. Plötzlich, nach acht Wochen, war er wieder da mit seinem Planwagen, seinem Schlapphut und seinem Geschrei. Aber sein Ruf war eigentümlicherweise anders.

 

Nicht mehr: „Heeeeeeeeeering, Heeeeeeeeeering, so fett wie Göring!", son­dern nun schrie er: „Heeeeeeeeeering, so fett wie vor acht Wochen!" Was war passiert? Hinter vorgehaltener Hand erzählte er leise: „Sie haben mich eingelocht und mir untersagt, jemals wieder den Göring zu Propaganda­zwecken zu missbrauchen. Jedenfalls nicht auf diese Weise." Den neuen Ruf fanden wir alle sehr spaßig. Keiner konnte ihm nunmehr et­was anhängen, aber alle wussten, der Holländer, Heringe und Göring gehör­ten zusammen.