Leseprobe

Frau Doktor Stengel hatte es eilig. Ihr Dienst im Krankenhaus fing vor acht an und sie hatte noch die beiden Kinder zur Tagesstätte hinter der Rauchstraße zu bringen, Hansel und Ursel. Beide trödelten gern, besonders der Kleine, der Junge. Wenn Hansel am Boden etwas entdeckte, riss er sich los und beugte sich über seinen Fund. Es war schlimm mit ihm. Im Zimmer pickte er jedes Krümelchen auf, im Garten verfolgte er Ameisen und versuchte sie in die Hand zu nehmen, einmal wollte er eine Schnecke in den Mund stecken. Man musste ständig hinter ihm her sein. Ursel war die ältere, die vernünftigere.

Was gab es nun wieder? „Ein toter Frosch“, vermutete Ursel, „bäh, Hänschen fasst das Vieh auch noch an.“

Es sah tatsächlich aus wie ein überfahrener und eingetrockneter Frosch und Hansel fasste tatsächlich nach dem toten Tier. Frau Stengel schimpfte. Der Junge hörte nicht. Die Mutter musste ihn wegziehen, mit Gewalt. Denn es war schon spät und sie hatte Dienst.

Doch halt, ein Frosch war das nicht. Frau Stengel sah den verschmutzten Fetzen und den Goldring, der daran hing, stippte mit dem Fuß daran und wusste sofort: ein Ohr, ein menschliches Ohr, wahrscheinlich abgebissen, in der Nacht, von einem Hund.

Sie trug immer Tempotaschentücher bei sich, wickelte den Fund ein und hatte nur einen Gedanken: Vorsicht, Aids.

Hansel brüllte wie am Spieß, weil er die Entdeckung gemacht hatte und sich nun um seinen Fund gebracht sah. Er ließ sich bis zum Kindergarten schleppen, zappelte, heulte, wurde aber ruhiger, als seine Mutter ihm die Hände wusch und jeden seiner kleinen Finger ganz genau untersuchte, als ob es etwas Wichtiges zu entdecken gäbe. Hatte er etwas an den Händen? Er guckte seine Finger lange an.

 

Als die Kinder untergebracht waren, holte Frau Stengel ihr Handy aus der Tasche und wählte die 110. Sie war selbst überrascht von der erregten Aufmerksamkeit im Revier: „Wie bitte, menschliches Ohr, Goldring? ... Aha, Messing oder Gold? ... Wir kommen sofort, bleiben Sie am Ort.“