Leseprobe

Anfang November traf ich Max. Ich ging an einem sonnigen Nachmittag mit Balthasar, meinem Dackel, im Stadtpark spazieren. Auf dem Rasen unter einer der schönen al ten Kastanien umringten Kinder einen Mann. Ich hörte sie lachen und klatschen. Neugierig näherte ich mich der Gruppe. Balthasar zog zwar in die andere Richtung, aber er hatte keine Chance. Der Mann - ich schätzte ihn auf ungefähr fünfzig Jahre - war mittelgroß und vollschlank, er trug schwarze Jeans, ein schwarzes Flanellhemd und eine bunte Weste. Er hatte ein rundes, sympathisches Gesicht: Lachfältchen um die braunen Augen und ein verschmitztes Lächeln auf den Lippen. Die kurzen Haare waren dunkelbraun, obwohl an einigen Stellen bereits ein grauer Schimmer darüber lag. Eben griff er in die große, altmodische Tasche, die neben ihm am Boden stand, und beförderte einen Beutel aus schwarzem Samt ans Tageslicht. Der Beutel war leer, das konnte ich genau sehen, denn er hatte vorn ein großes Sichtfenster aus weißer Gaze; außerdem wandt und quetschte der Mann den Beutel, als wolle er ihn auswringen. Dann griff er in die Luft und warf etwas in den Beutel. Es war ein Ei. Er nahm es wieder heraus und ließ es die Kinder anfassen. Ich zog Balthasar näher.

Der Mann war ein Zauberer, der ein Kunststück vorführte; das wollte ich mir auf keinen Fall entgehen lassen. Zaubern hatte mich schon immer begeistert. Balthasar setzte sich ergeben hechelnd neben mich. Der Zauberer ließ sich das Ei zurückgeben und kündigte an, dass er es jetzt verschwinden lassen werde. Er drehte den Beutel um und steckte das Ei von unten hinein. Dann machte er eine hastige Bewegung unter den linken Arm. Ich war enttäuscht. So ein Amateur! Ein Junge rief: »Das kann ich auch« - »Ich auch!« - »Ich auch!«, stimmten andere ein. Zögernd hob der »Möchtegern-Zauberer«, wie ich ihn im Stillen genannt hatte, den Arm - aber da war kein Ei. Also doch ein Profi! Er griff in den Beutel - und zog das Ei heraus. »Das könnt ihr also auch?«, fragte er die Kinder. »Nee, das nicht!«, meinte der Junge. Die anderen schüttelten ebenfalls den Kopf. »Aber das ist doch ganz einfach!«, sagte der Zauberer. »Ich zeig es euch noch einmal. - Zuerst tut ihr so, als ob ihr das Ei von unten in den Beutel steckt!« Wieder hielt er den Beutel verkehrt herum und führte das Ei hinein. »Dann linken Arm hoch und einmal mit dem Ei unter den Achseln anstupsen! Aber dort bleibt das Ei gar nicht. Ihr behaltet es in der rechten Hand und drückt es zusammen bis es ganz, ganz klein ist.« Er hatte die rechte Hand zur Faust geballt und drückte. »So, das reicht!«, verkündete er und öffnete die Faust; nur Daumen- und Zeigefingerspitze blieben zusammen, als befände sich dazwischen ein winziges Ei.

 

»Das Ei ist jetzt so klein und leicht, dass ich es hier in der Luft ablegen kann«, behauptete der Zauberer. »Aber wenn ihr so was mal vorführt, müsst ihr natürlich beweisen, dass ihr kein bisschen mogelt.« Er hob den linken Arm hoch; natürlich war dort auch kein Ei. Dann schüttelte er den Beutel noch einmal aus und wrang ihn wie einen nassen Badeanzug. Und wie am Anfang griff der Magier in die Luft, natürlich dorthin, wo er das winzige Ei vorher angeblich abgelegt hatte, und warf es in den Beutel. Da lag es dann tatsächlich; dick und weiß konnte ich es durch das Gazefenster sehen. Er lächelte und sagte: »Ich hoffe, ihr habt euch alles gut gemerkt und könnt es euren Eltern zu Hause vorführen.«